Leseprobe

Die Schwelle in die Dunkelheit


PROLOG

 

Seit drei Tagen regnete es ununterbrochen in der schönsten Stadt des Staates Washington. Und mit ›Regen‹ war keineswegs ein leichtes Tröpfeln oder Nieseln gemeint. Mit ›Regen‹ war vielmehr ein permanenter Wolkenbruch gemeint, der unbarmherzig auf die Menschen, Straßen und Häuser des schönen Städtchens Seattle herab prasselte. Die Pfützen auf den Gehwegen und Straßen waren zu großen, unumgeh- und fahrbaren Seen geworden. Einige Straßen waren komplett überschwemmt und nicht mehr befahrbar. Die Kanalisation konnte die Unmengen an Wasser nicht mehr aufnehmen und die Gullydeckel drohten, davon zu schwimmen. Die Feuerwehr war im Dauereinsatz um vollgelaufene Keller auszupumpen, was sich als recht sinnlos erwies, solange noch immer neues Wasser von oben nach floss. Seattle drohte im warmen Regen unterzugehen, denn zum Bedauern gab es zum Regen eine Außentemperatur von 25 Grad Celsius, was die Luft keineswegs angenehmer machte. Nicht gerade ein schöner Spätsommer.

Kein Einheimischer ging vor die Tür, wenn es nicht sein musste. Die Schulen hatten den Schülern frei gegeben und auch diejenigen, die nicht unbedingt zur Arbeit mussten, blieben lieber daheim. Vereinzelt trauten sich einige Mutige, mit einem dicken Regencape und festen Gummistiefeln bewaffnet, hinaus ins Nass, um den Hilfskräften bei der Absicherung der Ufer vom Green Lake im Norden zu helfen.

Nur wenige andere Menschen, die unbedingt meinten, zur Arbeit gehen, und damit den ohnehin stockenden Verkehr noch mehr behindern zu müssen, traf man auf der Straße an. Und dann noch solche, die lieber zu Hause geblieben wären, doch leider keinen Weg gefunden hatten, ihren Chef dazu überreden zu können.

Dazu gehörten Shannon McKane und Brandon Shaughns, Polizei-Detectives des 14. Reviers. Ihr dunkelgrüner Ford Explorer stand unter der Route 5, wo sie gehofft hatten, eini­germaßen vor dem Regen geschützt zu sein. Doch nicht nur das ununterbrochene Prasseln auf das Autodach und der Windschutzscheibe zerrte an ihren Nerven.

»Sag’ mir noch mal, warum wir hier sind?« fragte Shannon hörbar gelangweilt. Shannon McKane war eine ein Meter dreiundsiebzig große schlanke Frau Mitte dreißig. Ihr sportliches Outfit und ihr durchtrainierter Körper ließen sie oft jünger erscheinen. Das schulterlange, hellbraune, leicht wellige Haar rahmte ihr attrak­tives, makelloses Gesicht wohlwollend ein und ließ ihre braunen Augen besonders hervorstechen.

»Wir sollen«, ihr Partner blätterte in der Akte ihres Auftrags herum, »James Maynard beschatten.« Brandon Shaughns war nur ein Jahr älter als seine Partnerin. Auch er hatte braunes, natur gewelltes Haar, das er in einem adretten Kurzhaarschnitt trug. Seine haselnussbraunen Augen und sein charmantes Lächeln, das immer in ihnen zu sehen war, ließen so manches Mädchen dahin schmelzen. Sein durch­trainierter Körper und seine sonnen gebräunte Haut verliehen ihm das Aussehen eines Surfers.

Shannon und Brandon hatten gemeinsam an der Polizei­akademie in Seattle ihre Ausbildung begonnen und abgeschlossen. Dabei hatten sie sich näher kennengelernt und waren zu einem guten Team geworden. Und wie der Zufall es wollte bekamen sie beide eine Anstellung im 14. Revier des Seattle Police Departements. Ihr damaliger neuer Chief hatte nicht sehr viel Verständnis für junge Anfänger, die gleich hoch hinaus wollten, nur weil sie mit der besten Punktzahl des Jahrgangs abgeschlossen hatten. Seiner Meinung nach musste man ganz unten anfangen. Und das bedeutete Streife fahren. Nach zwei Jahren beschlossen Shannon und Brandon, dass sie bereit wären für eine neue Aufgabe. Das sah Chief Jarwes ganz genau so, der sehr zufrieden mit seinen beiden Neulingen war. Und somit erhielten Shannon und Brandon ihren ersten richtigen Einsatz als richtige Polizisten. Observation eines Drogenbosses. Und danach erfolgte der nächste Observierungsauftrag. Und der nächste und nächste. Inzwischen waren Shannon und Brandon sechs Jahre Polizisten des 14. Reviers und ihre Fälle bestanden noch immer aus Observationen. So hatten sie sich ihre Polizeiarbeit nicht gerade vorgestellt.

»Vielleicht täusche ich mich, aber ich denke, wir sitzen schon seit fünf Stunden in diesem Auto und bis jetzt hat sich hier noch nichts getan«, murrte Shannon und griff nach ihrem Kaffee­becher. Sie nahm einen großen Schluck und spülte damit ihren aufkeimenden Ärger herunter.

»Es wird sich schon was tun.«

»Brandon Shaughns, der ewige Optimist«, neckte Shannon ihren Partner und ein Lächeln schlich sich schon wieder auf ihr Gesicht. »Ich wiederhole mal meine Frage. Warum sind wir hier?«

Brandon konnte Shannon nur allzu gut verstehen. Observa­tionen waren nicht halb so spannend, wie man sie sich vorstellte. »Wenn es doch nur aufhören würde zu regnen. Ich könnte mir jetzt gut mal die Füße vertreten«, maulte er.

»Die Meteorologen sagen, der Regen soll noch eine Woche anhalten.«

»Letzte Woche sagten die Meteorologen, es würde heiß und schwül werden. Lassen wir uns überraschen. Genau wie mit diesem Auftrag. Passiert hier noch mal was?« Brandon rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

Shannon musterte ihn nervös von der Seite. »Hast du irgend­was?« fragte sie ihn mit einem spitzbübischen Unterton.

»Ich würde halt mal gerne rausgehen und mir die Beine vertreten.«

»Keiner hält dich davon ab.«

»Es regnet draußen in Strömen.«

Wie zur Bestätigung seiner Aussage prasselte der Regen für einen Moment besonders stark auf das Autodach.

»Durch dieses ständige Geräusch kann man ja nur dauernd auf die Toilette müssen«, quengelte Brandon.

»Dann mach halt nur die Tür auf. Ich schau auch nicht hin«, schlug Shannon vor.

Brandon verzog das Gesicht. »Danke, aber ich kann auch war­ten.«

Shannon nahm noch einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Dann hielt sie ihm den leeren Pappbecher hin.

Brandon beäugte sie misstrauisch.

»Zum… Du weißt schon. Geh’ nach hinten. Ich schau auch weg.«

»Nein. Danke. Es geht schon wieder. Wir sind ja eh bald wieder im Revier.«

Shannon stellte den Pappbecher vorsorglich in die dafür vorgesehene Vorrichtung in der Wagenmitte und konzentrierte sich wieder auf die Sicht nach vorn. Einige Minuten herrschte völlige Ruhe im Wagen. Niemand bewegte sich. Nur das gleich­mäßige Prasseln des Regens war zu vernehmen.

Plötzlich war es mit der Ruhe vorbei. Brandon griff nach dem Pappbecher und kletterte umständlich und hastig in den hinteren Teil des Wagens. Wenige Augenblicke später hörte man ein erleichterndes Stöhnen und Shannon konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

Brandon kletterte auf dem selben umständlichen Weg wieder nach vorne und machte es sich in seinem Sitz so bequem es ging.

Erneut kehrte Stille im Fond des Ford Explorer ein. Das monotone Prasseln hatte eine einschläfernde Wirkung auf die beiden Polizisten, die seit mehr als fünf Stunden eingezwängt in ihrem Dienstwagen hockten und auf eine alte verlassene Fabrik starrten, in der sich nach Aussagen einiger Informanten der Polizei James Maynard – Boss einer Mädchenschieberbande – herumtreiben sollte. Bis jetzt war rein gar nichts geschehen. Shannon und Brandon hatten Stellung in sicherer Entfernung bezogen und taten ihren Job: beobachten und berichten. Doch leider gab es bis jetzt nichts zu sehen und damit auch nichts zu berichten. Zwar deutete ein alter Chevi Van, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, darauf hin, dass sich jemand in der Fabrik aufhielt, doch Aktivitäten waren keine zu beobachten.

Brandon gähnte herzhaft. »Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen? Ein bisschen Aktion wäre doch mal nicht schlecht.«

Plötzlich schlich sich ein Grinsen auf Brandons Gesicht.

»Oh nein. Wage es ja nicht«, warnte Shannon, die Brandons Blick nur allzu gut kannte.

»Och bitte. Nur ein bisschen näher heran. Und dann schauen wir nur mal durch die Fenster. Von hier aus kann man ja nichts sehen.«

Shannon drückte Brandon das Fernglas in die Hand. »Versuch es mal damit.«

»Bitte«, bettelte er.

»Nein. Du hattest einmal deine Chance. Das Gebrüll von Jarwes hängt mir jetzt noch in den Ohren. Wir bleiben hier und tun unseren Job.«

»Der ist aber langweilig«, murrte Brandon und setzte das Fern­glas an. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Da ist ja unsere Aktion.«

Er reichte Shannon das Fernglas hinüber und wartete auf ihre Reaktion, die gleich darauf folgte.

»Home sweet home. Wir kommen«, sagte sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Sie griff nach ihrem Funkgerät und stellte die Verbindung her. »Sergeant Ryan?«

»Hier Ryan. Was gibt es?« ertönte die kratzige Stimme aus dem Lautsprecher des eingebauten Dienstfunkgerätes.

»Wir haben einen Einsatz für Sie. Soeben hat der Käufer die Halle betreten.« Shannon hängte das Funkgerät wieder ein und beobachtete das Schauspiel.

Nach wenigen Minuten näherte sich ein schwarzes, kastenähnliches SWAT-Fahrzeug der Fabrik und blieb mit quietschenden Reifen vor ihr stehen. Die Hecktüren öffneten sich und sechs pechschwarz uniformierte SWAT-Männer stürm­ten bewaffnet hinaus und sogleich hinein in die Fabrik.

Was sich dann hinter den Mauern abspielte konnten sich Shannon und Brandon nur denken. Wenige Minuten später kam der erlösende Funkspruch von Sergeant Ryan. »Wir haben sie. Vielen Dank noch mal an euch.«

Shannon ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie startete den Motor und lenkte den Wagen auf die Eastlake Avenue in Rich­tung Revier.

»Das nächste Mal können die selber jemanden zur Observa­tion abstellen. So langsam habe ich es satt, immer diese Anfängerarbeit zu machen«, schimpfte Brandon. Seine Laune verbesserte sich, kaum, dass sie den Schauplatz der Festnahme weit hinter sich gelassen hatten.

Sie fuhren an einer überschwemmten Straße vorbei, dessen Verkehr von einem völlig durchnässten Verkehrspolizisten gere­gelt und umgelenkt wurde.

»Okay. Wenigstens müssen wir nicht so eine Arbeit verrichten. Ich habe es ja verstanden.«

Wenige Augenblicke später bog Shannon auf den Parkplatz des 14. Reviers.

 

 

Kapitel 2

 

Der Regen hatte vollends aufgehört. Nur noch vereinzelt tropften die Regenrinnen der Reihenhäuser in der kleinen Straße. Die Bewohner Seattles öffneten erleichtert ihre Fenster und ließen die angenehme, zwar noch immer feucht schwüle, jedoch frisch riechende Luft in ihre Wohnungen einziehen.

Ein dichter Nebel hatte sich wie eine Dunstglocke über die Stadt gelegt und erschwerte die Sicht um einiges. Der Verkehr hatte sich in der Straße komplett gelegt. Die letzten Bewohner waren nach Hause gekommen und auch die letzten Jugendlichen waren von ihren Eltern hineingerufen worden als die Geschäfte der kleinen Straße ihre Türen um Mitternacht geschlossen hatten.

Es war kurz nach halb eins. Mitten in der Nacht. Alle Lichter in der Straße waren erloschen bis auf wenige Straßenlaternen, die fahles Licht spendeten. Jeder schien zu schlafen. Nur zwei nicht. Die saßen noch immer vor dem Fenster und beobachteten ihren Verdächtigen, der sich bis zu dieser Stunden nicht einmal aus seinem Fernsehsessel erhoben hatte.

Shannon und Brandon mussten sich anstrengen, um die ganze Straße überblicken zu können. Der Nebel war zu dicht.

»Denkst du, diese Observation ist sinnvoll?« fragte Brandon und unterdrückte nur mühselig ein Gähnen.

»Allmählich kommt mir das auch wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vor. Da tut sich rein gar nichts. Vielleicht sollte mal einer rüber gehen und hallo sagen. Nur um sicher zu gehen, dass wir auch den richtigen Beschatten«, schlug Shannon vor und musste sich nicht minder anstrengen, die Müdigkeit abzuschütteln. »Wenigstens fällt der Bericht kurz aus. Beobachten, beobachten. Nix passiert. Ende«, formulierte sie gelangweilt ihren Abschlussbericht für den Chief.

»Da fällt mir ein«, begann Brandon und wurde durch ein Gähnen seinerseits unterbrochen. »Hast du vorhin auch in der Gasse was gesehen?« fuhr er fort.

»Was meinst du?« Shannon hatte ihren Blick wieder auf das gegenüberliegende Wohnzimmerfenster gerichtet.

»Als wir vorhin hier ankamen und ich den Wagen in der Seitenstraße parkte, da hatte ich irgendwas in der Gasse gesehen.«

»Bestimmt nur Kinder, die dort gespielt haben«, tat Shannon die Sache ab.

»Dann hätte ich sie doch gesehen.«

Shannon beäugte ihren Partner von der Seite. »Sagtest du nicht eben, du hättest was gesehen?«

»Ja. Nein. Ich weiß auch nicht. Ich dachte, ich hätte was gesehen. Als ich genauer hinsah, konnte ich niemanden erkennen. Aber ich spürte, dass jemand da war.«

Shannon wandte ihren Blick von der Straße ab und sah ihren Partner vollends an. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Was denn? Ich habe gespürt, dass uns jemand beobachtet hat«, bekräftige Brandon.

»Aber du konntest niemanden sehen«, wiederholte Shannon.

»Richtig.«

»Und was ist daran so aufregend?«

»Das was ich gespürt habe. Ich habe deutlich gespürt, dass etwas Dunkles in der Gasse war. Etwas Unheimliches.«

Als Brandon Shannons Grinsen sah hörte er auf, seine Gefühle zu beschreiben und verstummte.

Eine wohltuende Stille trat ein, als sich beide wieder der Straße und der gegenüberliegenden Wohnung zuwandten. Der zuneh­mende Mond stand hoch am Himmel. Nur wenige Wolken zogen über ihn hinweg. Die Sterne funkelten hell und schienen Formen zu bilden.

Brandon gähnte. »Ich hätte nie gedacht, dass der Himmel einmal so faszinierend auf mich wirken kann.«

Auch Shannon war müde. »Wenn nicht gleich etwas passiert, kann ich nicht dafür garantieren, dass ich wach bleibe.«

Beide warfen einen erneuten Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. So dunkel und einsam wie die Straße vor ihnen lag, so einsam wirkte das Appartement ihnen gegenüber. Den ganzen Abend hatte sich dort drüben nichts gerührt.

»Wer sagt uns eigentlich, dass wir nicht das falsche Appartement observieren?« fragte Shannon.

»Ich würde das nicht ›observieren‹ nennen. Es ist doch wohl eher ein sinnloses Dasitzen und das Fenster auf der anderen Straßenseite beobachten. Das Fenster zum Hof. Nur, dass das aufregender war.«

Ein Blick auf die Uhr sagte den beiden, dass es nur eine halbe Stunde später war, als sie das letzte Mal hingesehen hatten.

»Wie leblos eine Stadt doch um ein Uhr nachts wirken kann.« Shannon stand auf und reckte und streckte sich gründlich.

Von Brandon kam keine Erwiderung. Er war auf dem Stuhl neben ihr eingenickt. Sein Kopf sank immer tiefer und sein Kinn drohte, sich in seine Brust zu bohren. Shannon stupste ihn leicht an der Schulter an. Mit müdem Blick sah Brandon zu ihr hoch.

»Schlaf ‘ne Runde auf der Couch. Ich übernehme alleine. Du kannst mich dann später ablösen«, schlug Shannon vor.

Dagegen hatte Brandon nichts einzuwenden. Er legte sich auf die Couch und wollte sich gerade gemütlich in die Wolldecke einkuscheln, als Shannon ihn mit ihrem aufgeregten ›Pst‹ wach rüttelte.

»Was ist denn?«

»Komm her. Ich habe da was gesehen. Schnell.«

Brandon warf die Wolldecke zurück und war zwei Sekunden später am Fenster und starrte hinaus auf die dunkle Straße.

Dass nur ein paar Laternen leuchteten, erschwerte die Sicht noch mehr.

»Da unten habe ich Männer gesehen. Vollkommen in schwarz. Sie gingen da rüber.« Shannon deutete mit ihrem Finger zur Kreuzung, die hinter der gegenüberliegenden Häuserreihe ihren weiteren Verlauf hatte und außerhalb der Sichtweite lag.

»Ich kann nichts sehen. Aber was ist daran so merkwürdig, dass da zwei Männer zusammen rumlaufen?« Brandon verstand Shannons Aufregung nicht.

»Die waren vollkommen schwarz gekleidet. Der eine trug einen langen Mantel. Ihre Gesichter waren… Solch blasse Gesichter habe ich noch nie gesehen. Und sie kamen aus der Seitenstraße, wo unser Auto steht.«

Brandon verstand allmählich, warum Shannon so aufgeregt war. Endlich tat sich etwas in der Straße. Und die zwei Personen kamen aus der Gasse, in der Brandon geglaubt hatte, jemand würde sie beobachten. »Hast du ihre Gesichter erkennen können?

»Nein. Dafür waren sie zu schnell. Der eine schien allerdings verletzt zu sein. Er wurde von dem anderen gestützt. Und da ist noch was.«

Brandon wartete gespannt darauf, dass Shannon fortfuhr. Sie zögerte. Schließlich erzählte sie weiter. »Ich spürte etwas eigenartiges. Als ich die beiden Männer sah, fühlte ich so was merkwürdiges in mir.«

»Ein kalter Schauer, der einem über den Rücken läuft, wenn man einen Horrorfilm sieht und denkt, das Monster stünde plötzlich hinter einem?«

Shannon nickte. »Genau das habe ich in der Gasse gespürt. Also waren es die zwei, die sich dort versteckt hatten. Aber warum?«

Shannon erkannte das Aufflammen in Brandons Augen. Ihr Partner war voller Tatendrang. »Los, komm. Wir verfolgen sie. Sie können noch nicht weit gekommen sein. Vielleicht erwischen wir sie noch und können sehen, wo sie hingehen.«

Brandon war schon an der Wohnungstür und riss sie auf als er bemerkte, dass Shannon zögerte. »Was ist? Komm schon.«

»Was ist mit unserem Fall?«

»Da hat sich schon den ganzen Tag nichts getan. Da wird sich auch nichts mehr tun. Und wenn schon. Ich spüre, dass wir einer viel größeren Sache auf der Spur sind. Schnell. Sonst sind sie weg.«

Brandon wartete nicht länger. Er stürmte aus dem Apparte­ment und lief die Treppe hinunter. Shannon überlegte nicht lange. Sie konnte ihren Partner nicht alleine diese beiden Männer verfolgen lassen. Sie stürmte nach draußen, zog die Tür ins Schloss und hatte Brandon, der schon auf der Straße angekommen war, in wenigen Augenblicken eingeholt.

Schnell liefen sie zur Kreuzung und bogen um die Hausecke. In etwa hundert Metern Entfernung konnten sie mit viel Mühe die zwei dunklen Gestalten erblicken. Schnellen Schrittes führten Shannon und Brandon ihre Verfolgung weiter durch.

Sie mussten vorsichtig sein und durften keinesfalls zu weit aufschließen. Es gab kaum eine Möglichkeit sich schnell genug zu verstecken, sollte sich auch nur einer der beiden Männer plötzlich umdrehen.

Sie hatten die Straße links liegen lassen und waren auf einen geteerten Fußgängerweg, der schräg von der Straße wegführte, gewechselt.

»Wo könnten die hinwollen?« fragte Brandon flüsternd.

»Keine Ahnung. Aber da vorne liegt der Ravenna Park.«

Shannon hatte Recht. Die beiden Verfolgten wechselten erneut den Weg und steuerten direkt auf den Haupteingang des Ravenna Parks zu.

In Windeseile kletterten die beiden Verfolgten über das verschlossene Tor des Parks. Shannon und Brandon beeilten sich aufzuschließen. Am Tor angekommen merkten sie, wie ihre Kräfte durch die Verfolgung etwas geschwunden waren. So leicht wie die beiden dunklen Männer kamen die beiden durchtrainierten Detectives nicht über das gut zweieinhalb Meter hohe Eisentor, das nur wenige Verstrebungen aufwies, die man als Kletter­hilfe nutzen konnte. Schließlich entschieden sich Brandon und Shannon über die Mauer neben dem Tor zu klettern.

Als sie endlich im Park standen hatten sie jegliche Spur von den beiden Männer verloren.

Der Ravenna Park war einer der kleinsten Parks Seattles. Doch mit klein war immer noch ein ein Kilometer langer und gut siebenhundert Meter breiter Park gemeint, der ausreichend Wege zum Joggen, Skateboard- oder Inlineskater fahren bot. Es gab viele Bäume, die Schatten an sonnigen Tagen boten und viele Lichtungen, die neben den großzügig angelegten Spielplätzen für Kinder und Picknickplätzen für Familien, genügend Platz zur Entspannung boten.

Tagsüber war der Park voll mit Studenten, da er direkt an das Campusgelände des hiesigen Colleges angrenzte. Jetzt, mitten in der Nacht, war der Park menschenleer. Dennoch, dass wussten Shannon und Brandon mit Sicherheit, befanden sich außer den beiden noch zwei andere obskure Männer im Park. Doch wo waren sie so schnell hin?

Ihrem Bauchgefühl folgend wählten Shannon und Brandon den Weg, der nach links führte. Der Kies scharrte unter ihren Schuhen, was sie beide dazu brachte, am Rand des Weges auf dem Rasen zu gehen, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen. Noch immer war keine Spur von den Männern zu sehen. Die Bäume wurden etwas dichter und nahmen ihnen auch noch das letzte bisschen Licht, was der Mond ihnen gespendet hatte.

Der Nebel war im Park weniger geworden. Beinahe schon ganz verschwunden. Dennoch lag etwas in der Luft, was Shannon einen Schauer über den Rücken jagte. Gerade war sie versucht, Brandon zu überreden, umzukehren, als sie ein leises Geflüster von rechts wahrnahmen.

Brandon und Shannon blieben wie angewurzelt stehen. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und sie wären ihren Verfolgten mitten in die Arme gelaufen.

Vor ihnen tat sich eine weitere Lichtung auf. Und dort fanden sie ihre beiden unheimlichen Gestalten wieder.

Die Detectives suchten hinter einem Baum Deckung und versuchten angestrengt, die Unterhaltung mitzuhören.

»Wir können erst morgen wieder zurück«, hörten sie den Größeren und offensichtlich Älteren der beiden zu dem möglicherweise Verletzten sagen.

»Aber ich habe Hunger. Und ich kann nicht noch einen ganzen Tag und eine halbe Nacht warten.«

»Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Man hat dich aufgeklärt. Man hat dir gesagt, es wäre gefährlich.«

»Was machen wir denn jetzt?« fragte der Jüngere und sah traurig zu Boden.

»Wir werden uns ein Versteck suchen müssen. Und dann warten wir. Du wirst sehen. Die Zeit wird schneller kommen als zu denkst.«

Brandon und Shannon warfen sich verwirrte Blicke zu. Die beiden Männer wirkten wie Vater und Sohn. Dennoch schien so ein Band nicht zwischen ihnen zu bestehen. Sie schienen weiterzugehen.

Brandon und Shannon kamen langsam aus ihrer Deckung und setzten ihre Verfolgung fort. In dem Moment geschah es. Der Ältere der Männer blieb abrupt stehen. Brandon und Shannon wussten nicht was sie tun sollten. Sie waren auf die Lichtung getreten, in dem Glauben, die Männer würden weitergehen. Sie hatten keine Chance, in Deckung zu gehen. Würde der Mann sich jetzt umdrehen, bliebe ihnen nur noch eine Möglichkeit, die ihnen vielleicht helfen könnte. Sie mussten das verliebte Paar spielen. Vorsorglich rückte Brandon näher an Shannon heran um im richtigen Moment den heißen Liebhaber zu machen.

In dem Moment drehte sich der Ältere langsam um und erblickte seine Verfolger. Brandon und Shannon waren wie erstarrt. Sie blickten in ein schneeweißes Gesicht, welches sich vom dunklen Haar und den schwarzen Klamotten abhob wie das Gesicht vom Tod persönlich.

Ein Lächeln umspielte die Lippen und die Augen schienen zu leuchten.

Brandon und Shannon konnten sich nicht bewegen. Sie waren starr vor Schreck. Es war nicht allein das Gesicht. Es war vielmehr das Lächeln, was aussagte, dass dieser Mann wusste, dass sie ihm gefolgt waren. Dann drehte sich der Mann wieder um und ging ruhigen Schrittes weiter, den jungen Mann stützend an seiner Seite. Erst als beide außer Sichtweite von Shannon und Brandon waren, konnten sich die beiden Detectives wieder bewegen.

»Was war das?« fragte Brandon mit trockenem Mund.

»Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall will ich nur noch weg hier«, kam es wie ein Hauch über Shannons Lippen.